Kategorie: Studie „Zur Sache“
Zur Sache. Kamera-ethnographische Beobachtungen im Grundschulunterricht
Den forschenden Beobachtungen geht es um eine grundlegende Frage:
Wie konstituiert sich die „Sache“ (der „Unterrichtsgegenstand“) in der Unterrichtsinteraktion?
Wie also stellt sich die Sache als eine gemeinsame und geteilte (vielleicht nicht von allen, aber doch von mehreren geteilte) Aufmerksamkeit her? Wie wird die Sache als eine zu bearbeitende etabliert? Wie wird etwas zur Sache und zu welcher?
Welche Repräsentationen der Sache finden wir: in Aufgaben, in Bildern, in Objekten? Wie werden diese Repräsentationen inszeniert, erläutert, gezeigt? Handelt es sich bei der Sache um etwas Feststehendes oder Dynamisches? Die Sache kann natürlich auch immateriell sein, ein Problem, eine Frage darstellen … aber auch dann müsste sie sprachlich repräsentiert sein und, zumindest wenn es sich um eine gemeinsame Sache handelt, auch beobachtbar sein.
Zugänge zur Sache sollten beobachtet und empirisch differenziert werden: Ist es immer die Lehrperson, die die Sache des Unterrichts kennt, einführt, (re-)präsentiert? Können auch Schüler*innen Sachen oder Fragen ‚mitbringen‘ und zur gemeinsamen Sache des Unterrichts machen? Finden wir auch „entdeckenden Unterricht“, in dem zu Anfang noch nicht klar ist, was die Sache sein wird, und der sich als ergebnisoffene Suche beschreiben lässt? Letztlich kommt die Sache des Unterrichts in den Praktiken der Schüler*innen zur Geltung – oder auch nicht. Wie lässt sich das beobachten? Wie hängt der Umgang mit dem Unterrichtsgegenstand mit der Organisation des Unterrichts zusammen: Wie „interferieren“ Praktiken der Repräsentation der Sache mit Praktiken der Interaktionsorganisation im Unterricht (Breidenstein 2021)?
Diesen Fragen widmete sich eine kamera-ethnographische Studie, für die Bina Mohn und Astrid Vogelpohl im Dezember 2019 sowie im Februar 2020 zwei einwöchige Feldforschungsphasen mit der Kamera in einer Berliner Grundschule durchgeführt haben. Die Kamera-Forscherinnen konnten bei dem Unterricht einer Lehrerin in einer vierten Klasse und eines Lehrers in einer dritten Klasse dabei sein. Es handelte sich um ‚ganz normalen‘, alltäglicher Unterricht, aber in verschiedenen Formaten: Es gab einführende Stunden als Kreisgespräch, Stationsarbeit in Kleingruppen von Schüler:innen, Unterrichtsgespräche, die Bearbeitung von Aufgaben oder freies Schreiben in Einzelarbeit, das Üben des Lehrers mit einer kleinen Gruppe auf dem Fußboden und anderes mehr … Die Kamerabeobachtung folgt dabei den alltäglichen, scheinbar banalen und kleinen Praktiken, die die Sache konstituieren: den Zeigegesten; der Ausrichtung der Körper, der Aufmerksamkeit, der Bearbeitung und den medialen (Re-)Präsentationen der Sache.
Die von Bina E. Mohn maßgeblich entwickelte Forschungsrichtung der „Kamera-Ethnographie“ (z.B. Mohn 2015) versteht Videographie als Feldforschung. Die Kamera wird nicht als neutrales Instrument der Aufzeichnung verstanden, sondern als Beobachtungsmittel. Die Kamera fokussiert, sie geht nah an das interessierende Geschehen heran, sie orientiert sich am Forschungsinteresse und an dem situativen Geschehen. Die Kamera hält nicht nur fest, sondern setzt ins Bild. Mit dem Material aus der Feldforschung wurde dann weitergearbeitet: Bina Mohn, Astrid Vogelpohl und Georg Breidenstein haben gemeinsam am Video diskutiert, Themen weiter fokussiert und die Kamerabeobachtungen so ausgewählt und verdichtet, dass die oben beschriebenen Forschungsinteressen und Fragen bearbeitet werden können. Das Produkt, die Videos, versteht sich (in Anlehnung an C. Geertz‘ “Dichte Beschreibung“) als „dichtes Zeigen“ (Mohn 2007): Es handelt sich um Beobachtungen, die etwas zur Diskussion stellen wollen, die sowohl Interpretation enthalten als auch zur Interpretation herausfordern wollen.
Literatur
Breidenstein, Georg (2021): Interferierende Praktiken Zum heuristischen Potenzial praxeologischer Unterrichtsforschung. In: Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 24 (4) 933–953.
Mohn, Bina E. (2010): Dichtes Zeigen beginnt beim Drehen. In: W. Thole, F. Heinzel, P. Cloos, S. Köngeter (Hg.): Auf unsicherem Terrain. Ethnographische Forschung im Kontext des Bildungs- und Sozialwesens. Wiesbaden, 153-169.
Mohn, Bina E. (2015): Kamera-Ethnografie: Vom Blickentwurf zur Denkbewegung. In: Gabriele Brandstetter und Gabriele Klein (Hg.): Methoden der Tanzwissenschaft. S. 209-230, Bielefeld: transcript-Verlag.