Interpretation zu Wünsche für die Zukunft,

Interpretation des Falls „Wünsche für die Zukunft“


Autor*in
Annike Kiehne |
Auswertungsmethode/n


Interpretation:

In dem Interaktionsprotokoll, was wir im Folgenden interpretieren wollen, beziehen wir uns auf den Wirtschaft-Arbeit-Technik Unterricht einer 8. Klasse an einem Gymnasium. Der Arbeitsauftrag bestand darin, dass sich die Kinder über ihre Träume und Wünsche für die Zukunft Gedanken machen sollten, um diese hinterher auf eine von der Lehrerin zur Verfügung gestellte Papierwolke aufzuschreiben. Die im Interaktionsprotokoll verwendeten Namen haben wir aus datenschutzrechtlichen Gründen abgewandelt.

Wir beschränken uns in der Interpretation zunächst auf den ersten Interakt:

Max: Kann ich eine blaue Wolke haben?

Es handelt sich hier um eine Verständnisfrage, die auf den ersten Blick Zustimmung oder Ablehnung beim Gesprächspartner hervorruft. Ohne Kontextbezug scheint die Wolke ein Repräsentant für etwas anderes zu sein und ist somit nur von symbolischer Bedeutung, da blaue Wolken in der Natur nicht existent sind und nur als Fantasiekonstrukt des Sprechers erscheinen. Was hier repräsentiert wird, ist vorerst jedoch unklar. Sicher ist, dass die Farbe Blau eine besondere Rolle spielt, doch auch hier können wir nicht herauslesen, warum. Die Äußerung „Kann ich eine blaue Wolke haben?“ assoziiert eine kindstypische Frage. Ginge man davon aus, dass ein Erwachsener diese Frage stellt, so stehe die blaue Wolke für eine Metapher, z.B. eine Droge. Hingegen würde ein Kind die blaue Wolke synonym verwenden für beispielsweise Zuckerwatte oder ein Kuscheltier, wenn es mit den Eltern auf dem Jahrmarkt ist. Es handle sich dann aber eben um eine blaue Zuckerwatte oder ein blaues Kuscheltier. So kommt der Farbe eine große Bedeutung zu, die wir nicht ausmachen können an dieser Stelle, welche aber deutlich präsent ist. Ein weiterer Deutungsansatz bezieht sich auf die positive Darstellung des Todes für das Kind durch die Eltern bei Verlust eines Familienmitgliedes, wobei die Frage in diesem Falle den Ausdruck des Kindes für die Sehnsucht nach dem Verstorbenen darstellt. Des Weiteren könnte das Kind seine Begeisterung für einen Film, ein Bild oder ein Buch ausdrücken, indem es nachfragt, ob es denn auch eine blaue Wolke haben könne. So müsse aber vorausgesetzt sein, dass ein Film oder Bild angeschaut, bzw. ein Buch mit dem Kind gelesen wurde, indem eine solche blaue Wolke thematisiert ist. Als abschließende Vermutung verbindet der Junge eine blaue Wolke möglicherweise mit einem Himmelbett, was er sich wünscht und welches er mit großem Wohlfühlfaktor verbindet. Das Fehlen des Höflichkeitswortes „Bitte“ verleiht dem Satz einen auffordernden Charakter. Dieser kann absichtlich gewählt sein oder ist aus einer Emotion entsprungen. Betrachtet man den Interakt im schulischen Kontext, so formuliert der Schüler Max eine Aufforderung an eine MitschülerIn oder eine LehrerIn. Diese beinhaltet den Wunsch nach einer blauen Wolke, welche hier eine Papierwolke oder eine Spielfigur sein kann. Sinnvoll sind hier nur diese Varianten, da andere Repräsentationsmöglichkeiten aufgrund des Alters des Schülers und des Kontextes wegfallen. Hinsichtlich der realen Situation und gegebener Aufgabenstellung stellt sich nun heraus, dass der Schüler Max seine Lehrerin Frau Müller nach einer blauen Wolke aus Papier fragt, auf der er seine Träume und Wünsche für die Zukunft notieren kann. Auffällig dabei ist die Wahl der Farbe, die für Max wichtiger zu sein scheint als der tatsächliche Arbeitsauftrag. Die Lehrerin Frau Müller könnte der Frage Zustimmung verleihen und dem Schüler seinen Wunsch nach einer blauen Wolke erfüllen oder diesen verneinen. Sie könnte ihn fragen, warum er diese blaue Wolke haben möchte, doch dies wäre eher unwahrscheinlich, da die Lehrerin ihren Unterricht weiterführen will. Falls Frau Müller seiner Bitte nachkommt, ist es denkbar, dass ein weiterer Schüler ebenfalls einen spezifischen Wunsch nach der Farbe des Wolkenpapiers äußert. Wenn sie seinen Wunsch verneint, dann will sie die Wolken schnell austeilen, um ihren Unterricht fortzuführen oder sie hat keine gute Bindung zu diesem Schüler. Es wäre auch denkbar, dass eine andere SchülerIn auf diese Frage reagiert und auf Gleichberechtigung besteht. Die Schülerfrage wird nun wie folgt von Frau Müller beantwortet:

Frau Müller: Klar! (Sie gibt ihm eine blaue Wolke.)

Die Bejahung trägt zu einem reibungslosen Ablauf der Interaktion bei, da der Schüler sich diese Antwort gewünscht hat. Die Wortwahl „Klar“ zeigt eine Selbstverständlichkeit. Man hätte die Frage auch simpel mit „Ja“ beantworten können. Dennoch ist immer noch nicht klar, warum es eben eine blaue sein soll. Es tritt hier die Vermutung auf, dass die Lehrerin mehrere Auswahl an Farben der Wolken zur Verfügung stellen kann.
Wie vermutet, reagiert eine Schülerin ebenfalls mit der Frage nach einer bestimmten farbigen Wolke:

Marie: Ich hätte gern auch ´ne blaue!

Die Schülerin äußert den gleichen Wunsch wie ihr Mitschüler Max. Sie hat nun eine gewisse Erwartungshaltung an die Lehrerin, dass ihr Wunsch ebenso erfüllt wird, da es bei Max auch so war. Sie formuliert ihre Aussage demnach auch als Aufforderung und nicht als höfliche Nachfrage. Auch sie legt mehr Wert auf die Farbe der Wolke, als auf die Erfüllung der Aufgabenstellung. Sie räumt das Recht ein, auch eine blaue Wolke zu bekommen, wie ihr Mitschüler. Es kommt hierbei auch auf die Betonung ihrer Aussage an. Es kann sein, dass sie diese freundlich oder fordernd der Lehrerin gegenüber äußert. Es ist zu erwarten, dass die Lehrerin, je nach Tonfall entscheidet, ob sie dem Wunsch zustimmt. Es wird erwartet, dass sie diesem Wunsch nachkommt, da sie dem, des Schülers Max, auch nachgekommen ist. Es kann aber auch sein, dass sie die Forderung verneint, aus schon genannten Gründen, die auch für Max hätten gelten können. Dem Fortgang des Interaktionsprotokolls wollen wir uns im folgenden Zuwenden:

Frau Müller: Wir sind hier nicht bei Wünsch-dir-was! (Sie legt im Vorbeigehen Marie eine pinke Wolke auf den Tisch.)

Die Antwort der Lehrerin ist sehr unerwartet/verblüffend, da man nicht mit einer derartigen Reaktion gerechnet hätte. Ein möglicher Interpretationsansatz bezieht sich auf die Farbwahl der Lehrerin, da sie pink für ein Mädchen wählt und blau für einen Jungen. Jedoch ist dies nicht eindeutig zu erkennen. Es kann reiner Zufall gewesen sein, dass die Lehrerin Marie eine pinke Wolke gegeben hat, weil diese eben gerade auf dem Wolkenstapel oben drauf lag. Andererseits handelt die Lehrerin hier nicht nach dem Prinzip der Gleichberechtigung, da sie auf den Wunsch von Max eingeht, aber nicht auf den von Marie. Es lässt sich vermuten, dass Frau Müller eine größere Sympathie für Max hegt und deshalb ihm den Wunsch gewährt. Von Diskriminierung kann man jedoch noch nicht reden, da dazu ausreichende Beweise fehlen. Sicher ist jedoch die Bevorzugung von Max (Sonderbehandlung). Der Zusammenhang zwischen Max und Marie ist nicht erkennbar und es besteht keine sichtbare Kausalität. Deshalb können nur Vermutungen aufgestellt werden, die die fehlende Sympathie für Marie erklären. Zum einen könnte etwas vorgefallen sein, was Marie in ein schlechtes Licht rückt, z.B. ein Pausenkonflikt, den die Lehrerin mit Marie lösen musste oder Probleme, die sich durch die Eltern auftun. Vielleicht ist Marie auch einfach eine sehr verhaltensauffällige Schülerin und die Lehrerin möchte sie somit „bestrafen“. Es wird aber kein derartiger Grund ersichtlich, weshalb nur Vermutungen aufgestellt werden können. Es soll an dieser Stelle keine Unterstellung der Lehrerin erfolgen. Ein einfacher Grund für ihr Handeln könnte die Erkenntnis des Zeitaufwandes sein, den die Lehrerin mit dem Heraussuchen der Farben für jede einzelne SchülerIn hätte und somit fiele die These, dass es eine abwertende Haltung gegenüber Marie gebe, weg. Möglicherweise hat sie auch keine ausreichende Anzahl an Farben, um jeder SchülerIn den Wunsch zu erfüllen und diese Erkenntnis gewinnt sie erst jetzt. Sollte dies der Fall sein, so würde Frau Müller nun weiter austeilen und jedem Kind eine beliebige Farbe geben. Natürlich wäre eine Reaktion von Marie auf die Ungerechtigkeit nicht undenkbar. Eine Möglichkeit wäre die Frage, warum Max seine Wahl treffen durfte und sie eben nicht. Darauf könnte Frau Müller mit einer Erklärung ihrer Lage (Zeitaufwand/fehlende Anzahl) antworten. Sie könnte Marie auch sagen, dass es jetzt eben so ist, wie es ist. Vielleicht entsteht eine Konfliktsituation zwischen der Lehrperson und der Schülerin. Zum zweiten hätte aber auch ein anderes Kind die Möglichkeit, sich zur Ungerechtigkeit zu äußern. Dabei sei die Äußerung von Max sehr wahrscheinlich, solange er die Situation weiterverfolgt hat. Dieser könnte Marie in Schutz nehmen und auf gleiche Weise der Lehrerin gegenüber Fragen stellen bzw. Aussagen treffen, die Maries Position verteidigen. Gegensätzlich hätte er auch Partei für seinen Standpunkt ergreifen und sich auf die Machtposition der Lehrerin berufen können, getreu dem Motto: „Wenn Frau Müller mir eine gibt und dir nicht, das ist das eben so.“ Eine weitere Möglichkeit bildet der Versuch einer dritten SchülerIn, es noch einmal bei der Lehrerin zu versuchen und einen weiteren Farbwunsch zu äußern. In dieser Situation ist dann ebenfalls eine Verneinung durch die Lehrerin zu erwarten, aufgrund der vorigen ablehnenden Haltung gegenüber Maries Wunschäußerung. Doch auch eine Bejahung ist möglich, da die Lehrerin keine allgemeine Aussage gegenüber der Klasse trifft, sondern nur zu Marie spricht und ihren Wunsch ablehnt. Die Variante der Erfüllung eines anderen Farbwunsches ist also immer noch denkbar. Der zuletzt genannte Fall tritt letztendlich ein und Moritz meldet sich zu Wort:

Moritz: Ich nehme eine pinke!

Der Schüler ignoriert die vorige Aussage von Frau Müller und wählt sich auch eine Farbe aus. Er vernachlässigt somit den Hinweis der Lehrerin.  Naheliegend ist, dass Moritz auch nochmal sein Glück probieren möchte. Moritz könnte hier auch seine Grenzen austesten, wie es in diesem Alter üblich ist und versuchen, seine Position bei der Lehrerin herauszufinden. Es ist auch denkbar, dass manche SchülerInnen sich darüber im Klaren sind, in welchem Verhältnis sie zu der Lehrerin stehen und möglicherweise ist eine konstante Ungerechtigkeit in der Klasse vorhanden. Eine andere Möglichkeit wäre, dass sich Moritz bei der Lehrerin beliebt machen möchte und sieht, dass die pinke Wolke oben drauf liegt. Somit möchte er zeigen, dass er keinen Extrawunsch hat und sich auf diese Weise der Diskussion entzieht. Falls er die Position des „Klassenclowns“ belegt, macht er sich eventuell auch über die vorherige Situation lustig. Auch hier wird erneut die Wichtigkeit der Farbe deutlich. Es scheint den SchülerInnen sehr darauf anzukommen und eher weniger auf die eigentliche Aufgabe. Im Nachfolgenden kann die Lehrerin auf diese Frage entweder mit Zustimmung antworten, was eher unwahrscheinlich scheint, oder mit Verneinung. Falls sie dem Wunsch nicht nachkommt, ist es möglich, dass Frau Müller auch entnervt auf die Bitte von Moritz reagiert. Aus Prinzip könnte sie Moritz eine andere Farbe geben, als die, die er als Wunsch geäußert hat. Dies unterstreiche ihre Machtposition, die sie im Verhältnis zu ihren SchülerInnen zu demonstrieren versuche. Die Frage nach dem „Warum“ lässt sich hier weitestgehend ausschließen. Unerwarteter Weise antwortet sie wie folgt:

Frau Müller: Ja, das habe ich mir gedacht. (Sie gibt Moritz eine pinke Wolke)

Zunächst scheint es so, als hätte die Lehrerin bereits geahnt, dass Moritz gerne ein pinke Wolke haben möchte. Dies zeugt von einer gewissen Vertrautheit, die zwischen den beiden zu erkennen ist. Frau Müller befindet sich möglicherweise in der Position, eine Aussage über den Geschmack des Jungen zu treffen. Ihre Kenntnisse könnte sie aus äußeren Auffälligkeiten von Moritz gewinnen, beispielsweise aus der Farbwahl der Kleidung, seine Erscheinung als sehr femininer Schüler oder die Vorliebe für die Sängerin Pink, welche er vielleicht mehrfach geäußert hat. Genauer herauszulesen ist dies nicht. Jedoch liegt offensichtlich eine Ungerechtigkeit gegenüber Marie in dieser Situation vor. Ginge man dem Gedanken nach, dass eine konstante Ungerechtigkeit in der Klasse vorherrscht, so bestünde nun die Frage nach den Gründen dafür. Die Ungerechtigkeit betrifft hier nur Marie, weshalb Geschehnisse der Vergangenheit daran Schuld tragen könnten. Zum Beispiel wäre es möglich, dass es innerhalb der Klasse oder in der Pause auf dem Schulgelände zu Auseinandersetzungen mit MitschülerInnen oder auch LehrerInnen kam, an denen Marie schuldig gewesen ist. Somit assoziiere die Verweigerung des Wunsches von Marie durch die Lehrerin einen Akt der Bestrafung. Nehme man den Akt der Bestrafung als tatsächlichen Grund für das Handeln der Lehrerin, so gäbe es weitere Gründe, warum sie Marie bestrafen möchte. Unter Umständen macht sie unbewusst ihre Schülerin für vergangene Konflikte mit deren Eltern verantwortlich und zeigt auf diese Weise ihren Ärger. Bestenfalls empfindet Frau Müller jedoch keine negativen Gefühle gegenüber ihren SchülerInnen. Sucht man aber nun nach anderen möglichen Gründen für ihr Handeln, so erschließt sich eine mutmaßliche Bevorzugung gewisser SchülerInnen. Hier beträfe dies Max und Moritz. Annehmbar ist, dass diese durch positive Aktivitäten der Lehrerin aufgefallen und deshalb in ein höheres Ansehen bei ihr gerutscht sind. Im Gegensatz zur eventuell fehlenden Sympathie gegenüber Maries Eltern, bestünde die Möglichkeit der besonders großen Sympathie für Max‘ und Moritz‘ Eltern. Genau ist das aber nicht auszumachen. Vielleicht belegen auch einige ihrer Klassenmitglieder eine von ihr geleitete AG, weshalb sie diese besser kennt (was das Wissen über die Vorliebe von Moritz für die Farbe Pink begründe) und in manchen Situationen bevorzugt. Ungeachtet der Gründe kann trotzdem gesagt werden, dass das Handeln der Lehrerin einen Widerspruch ergibt und sie in der vorliegenden Situation Ungerechtigkeit gelten lässt. Daraufhin gab es jedoch keine Reaktion mehr seitens der SchülerInnen.