Interpretation zu Lenny stört,

Fokussierte Darstellung des interpretierten Falles „Lenny stört“


Autor*in
Student*in Anonym |
Auswertungsmethode/n


Interpretation:

Das vorliegende Unterrichtsprotokoll spielt sich in der 4. Stunde einer 6. Klasse im Naturwissenschaftsunterricht ab. Das Thema der Stunde in der Unterschied zwischen Bakterien und Viren.

Die Schülerinnen und Schüler begrüßen die Lehrerin. Diese steht vor der Klasse. Alle Schülerinnen und Schüler sitzen an Zweiertischen mit Blick zur Tafel. Ein Schüler namens Lenny sitzt an einem Einzeltisch hinten rechts. Nach der Begrüßung fängt die Lehrerin mit dem Unterricht an. Die Lehrerin bittet die Schüler, das Blatt zu „Viren und Bakterien“ rauszuholen. (Sequenz 1)

Auffallend an der ersten Sequenz ist die Tischanordnung. Diese kann ein Hinweis darauf sein, dass die Lehrerin im Fokus der Schülerinnen und Schüler steht, was auf die Unterrichtsform des klassischen Frontalunterrichts schließen lassen kann. Eine solche Sitzordnung könnte auch gewählt worden sein, um der besseren Konzentration, Kontrolle oder Individualisierung zu dienen. Es stellt sich in der Sequenz die Frage, warum ein Junge an einem Einzeltisch sitzt. Eine Möglichkeit wäre, dass er spezielle Förderung erhält, um Defizite auszugleichen oder seine Begabung besonders zu stärken. Eine andere Variante wäre, dass er aus Sanktionsgründen an dem extra Tisch sitzen muss. Die Lehrerin fordert mit einem klaren Satz die Kinder gezielt auf, ein bestimmtes Arbeitsblatt herauszuholen.

Folgende Anschlussmöglichkeiten des Unterrichtsverlaufs ergeben sich: Die Lehrerin könnte mit dem Frontalunterricht fortfahren oder mit einer anderen Unterrichtsform beginnen, wie z.B. mit einer Frei- oder Gruppenarbeit. Es wäre auch wahrscheinlich, dass beim Herausholen des Blattes Unruhe aufkommt und Kinder sich melden, das Blatt nicht dabei zu haben

Der Schüler Lenny fängt an, mit einem Mitschüler laut zu reden. (Sequenz 2)

Es bestätigt sich die Anschlussmöglichkeit, dass ein Schüler unruhig wird und anfängt, sich laut zu unterhalten. Eine Lesartvariante wäre, dass Lenny die Gelegenheit der Unruhe nutzen möchte, um etwas loszuwerden, was er in der Pause nicht getan hat. Eine andere mögliche Ursache wäre, dass er die Aufmerksamkeit und Anerkennung der Lehrerin und der Mitschülerinnen und Mitschüler gewinnen möchte. Vielleicht ist ihm auch langweilig bzw. weiß er, dass ihm langweilig werden wird, weil die Schere zu groß zwischen dem ist, was er vom Unterricht erwartet und die Lehrerin ihm bietet. Eine weitere Möglichkeit wäre, dass er davor nicht zugehört hat und ihm der Auftrag, das Blatt herauszuholen, gar nicht bewusst ist.

In einem nächsten Schritt könnten sich folgende Möglichkeiten anschließen: Lenny wird von selbst ruhig und holt im Anschluss sein Arbeitsblatt heraus, oder ein Mitschüler macht ihn auf das Unterrichtsgeschehen aufmerksam. Die Lehrerin könnte ihn entweder freundlich bitten oder ihn ermahnen.

Die Lehrerin schaut ihn ernst an und entgegnet ihm in einem strengen Ton: „Wir brauchen keine Anleitung von dir, ansonsten bist du draußen.“ (Sequenz 3)

Die letzte Anschlussmöglichkeit aus der vorherigen Sequenz bestätigt sich. Die Lehrerin droht dem Schüler mit der Strafe des Unterrichtsverweises, ohne dass eine Besprechung des möglichen Fehlverhaltens erfolgt. Nach dieser Sequenz ist es interessant, die Reaktion von Lenny und den anderen Kindern zu betrachten. Lenny könnte unterschiedlich reagieren: Er könnte verstummen, weil er von der Zurechtweisung eingeschüchtert ist. Da die Lehrerin sich der Ironie bedient („Anleitung“), könnte er die Worte gar nicht verstehen oder er ignoriert sie und redet folglich weiter. Er könnte sich auch herausgefordert fühlen, sodass sich die Situation durch nicht erwünschtes Verhalten zuspitzt, zum Beispiel könnte er ohne Erlaubnis den Unterricht verlassen. Die anderen Kindern könnten nach diesem Satz entweder lachen, weil sie den ersten Teil des Satzes als Witz verstehen, oder sie schweigen, weil sie von der Drohung, herauszufliegen, eingeschüchtert sind.

Lenny redet weiter vor sich her. (Sequenz 4)

Es bestätigt sich, dass Lenny der Aufforderung der Lehrerin nicht nachgeht. Ein möglicher Grund wäre, dass er keine gute Beziehung zur Lehrerin führt und er sich von ihr nichts sagen lassen will. Eine weitere Lesartvariante könnte sein, dass Lenny kein Arbeitsblatt hat, entweder, weil er es Zuhause vergessen hat, oder, weil er es nie bekommen hat, zum Beispiel aufgrund von Abwesenheit durch Krankheit. Die Lehrerin könnte in der nächsten Sequenz Lenny erneut ermahnen und zurechtweisen. Das könnte entweder auf höfliche oder wütende, unfreundliche Art geschehen. Sie könnte auch auf ihn eingehen und ihn fragen, warum er rede und wo sein Arbeitsblatt sei.

Lehrerin: „Äh Lenny (lauter), wir brauchen keinen Kommentar. Arbeite lieber.“ (Sequenz 5)

Die Anschlussmöglichkeit, dass die Lehrerin Lenny erneut zurechtweist, bestätigt sich. Dies erfolgt mit lauter Stimme und auf unfreundliche Art. Der Satz „wir brauchen keinen Kommentar“ könnte Lenny darauf schließen lassen, dass er im Unterricht unerwünscht ist und die Lehrerin seine Beiträge als überflüssig ansieht. Stattdessen erteilt sie ihm die Arbeitsanweisung, zu arbeiten. Das könnte Lenny verwirren, weil es zu diesem Zeitpunkt noch gar keinen zu bearbeitenden Arbeitsauftrag gibt.

Im Folgenden könnte Lenny die Situation weiter zuspitzen, indem er weiter stört oder sogar aggressiv wird. Möglich ist es auch, dass er auf die Lehrerin hören möchte und einen seiner Mitschülerinnen oder Mitschüler nach der Aufgabe fragt. Das könnte die Lehrerin jedoch als eine weitere Störung empfinden. Eine andere Variante wäre, dass Lenny nach der zweiten Ermahnung nun aufhört zu reden und einfach nur stillsitzt, um der Lehrerin wieder zu folgen.

Lenny verstummt und stützt seinen Kopf mit einer Hand. Mit dem Oberkörper liegt er zum Teil auf dem Tisch. (Sequenz 6)

Die Reaktion der Lehrerin bringt Lenny dazu zu schweigen. Mit seiner Körperhaltung möchte er der Lehrerin möglicherweise auch seine Arbeitshaltung zeigen, nämlich, dass er zwar still ist, aber am Unterricht nicht teilnehmen, sondern sich langweilen wird. Eine andere Interpretationsmöglichkeit wäre, dass Lenny müde ist. Lennys Biographie von seinem Zuhause ist an dieser Stelle nicht bekannt, weshalb man nicht wissen kann, ob seine Eltern für den nötigen Schlaf sorgen, oder er Zuhause auch verhaltensauffällig ist und die Eltern selbst Konflikte haben, was zum Beispiel auch das Zubettgehen betrifft.

Als Anschluss an diese Sequenz wäre es möglich, dass die Lehrerin ihn nun wegen seiner nicht erwünschten Arbeitshaltung ermahnt. Sie könnte den Wechsel in die gelangweilte Position auch ignorieren und mit dem Unterricht fortfahren.

Lehrerin fragt ihn: „Wo ist dein Arbeitsblatt?“ Lenny antwortet daraufhin: „Ich glaube, ich habe das Zuhause gelassen.“ (Sequenz 7)

Es bestätigt sich, dass die Lehrerin mit dem Unterricht fortfährt. Dazu möchte sie Lenny abholen und fragt ihn, wo sein Arbeitsblatt sei. Damit möchte sie auf eine neutrale Unterrichtsebene mit dem Schüler kommen, sodass sich der vorherige Konflikt beruhigen könne. Lenny entgegnet ihr auf die neutrale Frage ehrlich, dass er glaube, es Zuhause gelassen zu haben. Er spricht damit nur eine Vermutung aus und möchte der Lehrerin möglicherweise damit zeigen, dass er es nicht beabsichtigt vergessen hat.

Da diese Sequenz für einen kurzen Moment die Beziehung wiederherstellte, könnten folgende Anschlussmöglichkeiten folgen: Die Lehrerin bedauert, dass er das Arbeitsblatt nicht dabei hat und löst das Problem, indem jemand anders Lenny bei sich reinschauen lässt. Sie könnte ihm auch eine neue Kopie geben, sofern eine vorhanden ist. Es könnte auch der Fall eintreten, das die Lehrerin in ihr alten Verhaltensmuster fällt und Lenny dafür ein weiteres Mal ermahnt, zurechtweise oder bestraft.

Lehrerin (genervt, dann streng): „Fehlt wieder Arbeitsmaterial. Gibt ein Minus.“ (Sequenz 8)

Die letztgenannte Anschlussmöglichkeit aus der Sequenz 7 bestätigt sich. In Sequenz 8 benutzt die Lehrerin das Wort „wieder“ in einem genervten Ton, was darauf schließen könnte, dass Lenny nicht zum ersten Mal sein Arbeitsmaterial vergessen hat. Möglicherweise könnte das der Grund für ihre Wut sein, weshalb sie jede Handlung von Lenny als Unterrichtsstörung empfindet und ihn von Beginn an schnell und in einem harten Tin ermahnt und zurechtweist. In dieser Sequenz weist sie ihn nicht nur zurecht, sondern verhängt vor der ganzen Klasse eine Strafe gegen ihn. Er bekommt ein Minus in ihr Notenheft eingetragen. Damit könnte sie beabsichtigen, dass diese Strafe beim nächsten Mal das unerwünschte Verhalten (Vergessen von Arbeitsmaterial oder Hausaufgaben) vermeidet. Dass sie das Minus vor der gesamten Klasse nennt, könnte darauf hinweisen, dass sie die Regeln und Konsequenzen für alle Kinder wiederholen möchte, um weitere Störungen zu vermeiden.

Wie könnte der Schüler auf die Bestrafung reagieren? Entweder nimmt er die Strafe so hin oder er zeigt eine Reaktion darauf. Diese könnte verbal sein (er beschwert sich, er sagt, es sei ihm gleichgültig, er regt sich auf, …) oder er könnte eine physische Reaktion zeigen, beispielsweise Aggressivität oder das Verlassen des Klassenraums ohne Erlaubnis.

Die Lehrerin fährt mit dem Unterricht fort und erklärt die Aufgabe. Die Kinder sollen die Informationen über Bakterien und Viren im Text, den sie zu dieser Stunde lesen sollten, in eine Tabelle übertragen. Sie geht ein Beispiel durch. Lenny quatscht wieder vor sich her. (Sequenz 9)

Lenny hat gar keine andere Möglichkeit, als das Minus zu akzeptieren, da die Lehrerin mit dem Unterricht fortfährt. Da Lenny immer noch kein Arbeitsblatt vor sich liegen hat, kann er nicht am Unterricht teilnehmen und die Aufgabe, Informationen aus dem Text zu filtern, erfüllen. Damit schließt sie ihn indirekt vom Unterricht aus. Möglich an dieser Stelle ist, dass der Ausschluss eine weitere beabsichtigte Strafe sein soll. Vielleicht möchte sie, dass Lenny die Konsequenz erfährt, dass man ohne Material nicht arbeiten kann.

Das gleiche Muster wie zu Stundenanfang beginnt erneut: Die Lehrerin unterrichtet und Lenny fängt an, unruhig zu sein und vor sich her zu quatschen. Möglichkeiten dafür sind, dass er entweder gelangweilt ist, er die Aufmerksamkeit der Anwesenden gewinnen oder die Lehrerin weiter provozieren möchte. Im Anschluss daran könnte die Lehrerin sein Verhalten, in der Hoffnung, dass er aufhört, wenn er keine Aufmerksamkeit bekommt, ignorieren. Sie könnte ihn erneut ermahnen, was zu dem Wechselspiel von Ermahnung des Schülers und Provokation der Lehrerin führen könnte. Eine letzte durchgreifende Variante wäre, dass sie ihn des Unterrichts verweist.

Lehrerin (mit erhobener Stimme): „Lenny raus!“ (Sequenz 10)

Die Lehrerin lässt sich provozieren und schmeißt den Schüler mit einem kurzen Befehl und erhobener Stimme aus dem Unterricht. Entweder handelt sie so, weil sie denkt, es sei eine gerechte Strafe oder weil ihre Geduld am Ende ist und sie ihren fachlichen Unterricht beenden möchte. Außerdem könnte es sein, dass Lenny mit seinem Verhalten nicht nur sie, sondern auch andere Schülerinnen und Schüler gestört und abgelenkt hat. Damit könnte sie auch im Sinne der gesamten Klasse handeln wollen.

Lenny könnte in der nächsten Sequenz dem Befehl folgen – still oder unter Protest. Er könnte sich aber auch weigern, seinen Platz zu räumen und eine Diskussion beginnen.

Lenny steht auf und geht ein paar Schritte. Die Lehrerin fügt hinzu: „Nimm Tisch und Stuhl mit und dann kannst du dir deine Tabelle alleine erarbeiten.“ (Sequenz 11)

Lenny befolgt die Anweisung sofort. Die Lehrerin erweitert ihre Strafe, indem sie ihn zusätzlich auffordert, Tisch und Stuhl hinauszutragen und die Aufgabe der Stunde alleine zu absolvieren. Sie könnte damit die Absicht verfolgen, dass sie ihn so vor der Klasse vorführen möchte, indem sie ihn zum einen mehrere Möbelstücke aus dem Klassenzimmer tragen lässt und zum anderen eine Aufgabe erteilt, die er ohne das Arbeitsblatt gar nicht lösen kann.

Folgende Anschlussmöglichkeiten ergeben sich. Lenny befolgt nur die erste Strafe und verlässt ohne Tisch und Stuhl den Raum, er akzeptiert die gesamte Strafe und leistet Folge oder die nachträglich erteilte Strafe führt zu Diskussionsbedarf.

Lenny: „Ich kann das aber nicht.“ (Sequenz 12)

Lenny akzeptiert die Anweisung mit dem Kommentar, er könne es nicht. Damit möchte er möglicherweise zum Ausdruck bringen, dass er die Aufgabe zu schwierig findet oder dass er diese nicht ohne Arbeitsblatt lösen kann. Es kann auch sein, dass er aus Trotz diesen Kommentar äußert. Im Anschluss könnte die Lehrerin diesen ignorieren oder hinterfragen, warum er es nicht könnte. Daraus könnte eine weiterführende Konversation entstehen, die unter anderem den weiteren Unterricht blockiert.

Lehrerin: „Doch, doch. sonst hättest du nicht gequatscht, sondern aufgepasst.“ (Sequenz 13)

Die Lehrerin ignoriert sein Anliegen und unterstellt ihm, er wisse, was zu tun ist, sonst wäre er nicht unaufmerksam gewesen uns hätte gestört. Damit möchte sie möglicherweise eine weitere Auseinandersetzung unterbinden.

Lenny steht auf und trägt seinen Einzeltisch nach draußen auf den Flur. Er kommt zurück, um seinen Stuhl zu holen. Beim Rausgehen gibt die Lehrerin ihm ihr Arbeitsblatt mit dem Text. (Sequenz 14)