Interpretation zu Geduld,

Diskussion des Falls „Geduld“


Autor*in
Laura Nachtwey |
Auswertungsmethode/n


Diskussion:
Sequnez I

Nachdem die SchülerInnen einen Text im Klassenverband laut gelesen haben, stellt die Lehrerin die Frage, wie dieser Text in verteilten Rollen gelesen werden kann. Bevor ein anderes Kind auf die Frage reagieren kann, ruft Jonas eine Antwort rein. In diesem Moment missachtet er die Regel des sich Meldens. Weiterhin antwortet er der Lehrerin mit „Gar nicht“. Diese Antwort ist in diesem Moment durchaus legitim. Es kann ja Jonas´ Ansicht sein, dass dieser Text sich nicht zum Lesen in verteilten Rollen eignet. Jedoch ist in dieser Situation ziemlich klar, dass die Frage von der Lehrerin gestellt wird, um den Text anschließend in verteilten Rollen zu lesen. Obwohl Jonas´ Antwort also inhaltlich durchaus akzeptabel ist, wirkt sie in dieser Situation trotzdem unangemessen und frech. Dies kann vor allem an Jonas´ Verhalten während seiner Antwort festgemacht werden. Er ruft mit lauter Stimme seine Antwort in die Klasse, ohne sich vorher gemeldet zu haben. Aber vor allem sein Lachen, welches sich an seine Antwort anschließt, lässt darauf schließen, dass er sich der Unangemessenheit seiner Antwort in dieser Situation durchaus bewusst ist. Genau dieses Verhalten verstärkt die Annahme, dass es sich in dieser Situation um eine von Jonas bewusst herbei geführte Unterrichtsstörung handelt. Über das Ziel seiner Störung kann diskutiert werden.

Betrachtet man die oben aufgeführten Verhaltensweisen bei Unterrichtsstörungen, die das Erlangen von Aufmerksamkeit zum Ziel haben und jene, deren Ziel die Demonstration von Macht ist, wird deutlich, dass es sich in dieser Situation um die Demonstration von Macht handelt. Kinder, die durch ihre Unterrichtsstörungen Macht demonstrieren wollen, sind ungehorsam, lügen häufig, verweigern jede Arbeit, sind stur oder tun genau das Gegenteil von dem, was von ihnen erwartet wird. In dieser Situation ist Jonas auf eine gewisse Art und Weise ungehorsam – er ruft rein, obwohl er genau weiß, dass es die Regel gibt sich zu melden. Viel auffälliger ist in dieser Situation aber, dass er genau das Gegenteil von dem tut, was von ihm erwartet wird. Indem Jonas sagt, dass der Text nicht in verteilten Rollen gelesen werden kann, deutet er an, dass er dies auch nicht tun wird. Gleichzeitig weiß er in dieser Situation, dass seine Antwort weder von der Lehrkraft erwartet wird, noch angemessen ist. Zudem ist ihm mit großer Wahrscheinlichkeit klar, dass seine Antwort den ganzen Unterrichtsverlauf ins Wanken bringen kann, da die Lehrerin auf eine Antwort gebaut hatte, mit der weiter gearbeitet werden kann. Dies ist mit Jonas Antwort nicht möglich. In diesem Moment wird eine Antwort von ihm erwartet, die den Unterricht in seinen Verlauf weiter bringen kann. Mit seiner Antwort stoppt Jonas aber geradezu den Unterricht und tut somit genau das Gegenteil von dem, was von ihm erwartet wurde.

Auch der Lehrerin wird in dieser Situation klar sein, dass es Jonas´ Ziel ist, den Unterricht durch seine Antwort zu stören oder wenigstens zu unterbrechen. Und obwohl das automatisch eine Provokation von Seiten des Schülers ist, wendet Frau Hinze sich scheinbar vollkommen ruhig an Jonas und antwortet ihm in nur einem Satz: „Dann nicht, du musst es nicht machen.“ Diese Reaktion seiner Lehrerin scheint Jonas nicht erwartet zu haben. Er blickt sie verwirrt und scheinbar unsicher an. Dann senkt er, ohne noch etwas zu sagen, seinen Kopf.

Betrachtet man die theoretischen Ausführungen zu Unterrichtsstörungen wird deutlich, dass die Lehrerin in dieser Situation einen ganz wichtigen und in der Literatur immer wieder empfohlenen Punkt beachtete: Sie lässt sich nicht auf einen Machtkampf mit Jonas ein. Es ist fraglich, ob sie diesen hätte „gewinnen“ können. Sie hätte zu ihm sagen können, dass diese Antwort unpassend ist, hätte ihn auffordern können, nicht zu stören. Aber damit hätte sich Jonas wahrscheinlich herausgefordert und in seiner Erwartung bestätigt gefühlt. Dies hätte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu weiteren Unterrichtsstörungen seinerseits geführt.

Nachdem Frau Hinze ihm gesagt hat, dass er die Aufgabe nicht erledigen muss, senkt Jonas seinen Kopf und scheint seine Blätter zu betrachten. Diese Reaktion zeigt, dass Frau Hinze es durch ihr Verhalten geschafft hat, Jonas´ Unterrichtsstörung zu beenden. Dabei scheinen vor allem ihre absolute Ruhe und ihre für Jonas unerwartete Reaktion ausschlaggebend gewesen zu sein.

Sequenz II

Unmittelbar nach Jonas´ Unterrichtsstörung folgt die nächste Störung durch Benjamin. In der Zeit, in der die Lehrerin mit Jonas gesprochen hat, ist er unter den Tisch geklettert und nicht wieder aufgetaucht.

Es kann nur vermutet werden, warum Benjamin so agiert. Es ist möglich, dass ihm einfach langweilig ist, während Frau Hinze mit Jonas spricht. In diesem Fall wäre ihm sein Regelverstoß und die daraus resultierende Unterrichtsstörung nicht explizit bewusst. Vielleicht will er aber auch ganz bewusst den weiteren Unterrichtsablauf stören und die Aufmerksamkeit seiner MitschülerInnen erlangen. Diese Variante ist wahrscheinlicher, da Benjamin sich nach der ersten Aufforderung der Lehrerin nicht wieder auf seinen Platz setzt, sondern eine Diskussion beginnt. Wäre er nur aus Langeweile unter den Tisch geklettert, hätte er womöglich auf die erste Aufforderung von Frau Hinze reagiert. Somit scheint es sich um eine Unterrichtsstörung zu handeln, mit der das Kind Aufmerksamkeit erlangen möchte. Solche Unterrichtsstörungen zeichnen sich durch charmant sein, weinen, übermäßige Empfindlichkeit oder stören aus. In dieser zweiten Sequenz versucht Benjamin Aufmerksamkeit durch Stören zu erlangen. Er stört nicht auf eine Art und Weise, die aktiv Aufmerksamkeit von seinen MitschülerInnen herausfordert, indem er zum Beispiel in die Klasse ruft. Vielmehr wird sein Verschwinden erst nach einiger Zeit bemerkt und die Reaktion auf sein Verhalten erfolgt nicht sofort. Ihm ist jedoch vermutlich bewusst, dass der Unterricht nicht einfach weitergehen wird, wenn er nicht auf seinem Platz sitzt. Genau das ist auch der Fall. Die Lehrerin schenkt ihm seine Aufmerksamkeit. Genau diese Reaktion wird auch im Theorieteil als häufigstes Verhalten der Lehrkraft benannt.

Als Frau Hinze bemerkt, dass Benjamin nicht mehr auf seinem Platz sitzt, spricht sie ihn nicht direkt an. Sie spricht über ihn, indem sie sagt: „Jetzt müssen wir mal warten, bis unser Kindergartenkind wieder sitzt, sonst können wir nicht weitermachen.“ Beeindruckend an dieser Situation ist, dass sie immer noch vollkommen gelassen scheint, auch wenn angenommen werden kann, dass sie es nicht mehr ist, da es sich schon um die zweite Unterrichtsstörung innerhalb weniger Minuten handelt. Indem sie das sagt, schenkt sie Benjamins Verhalten durchaus ihre Aufmerksamkeit, ihm selbst aber nicht direkt. Diese Reaktion stimmt wahrscheinlich nicht mit dem überein, was Benjamin erwartet hatte. Sie reagiert ähnlich einer Handlungsmöglichkeit, die DREIKURS, GRUNWALD und PEPPER vorschlagen. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen und reagiert für das Kind unerwartet.

Zudem schafft es die Lehrerin durch ihre Wortwahl, Benjamins volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Sie hält ihm sein Fehlverhalten nicht vor, sie klagt ihn nicht an. Sie erklärt ihm durch ihre Worte jedoch, wie er auf die Anderen wirkt, nämlich wie ein Kindergartenkind. Kein Erstklässler möchte als Kindergartenkind bezeichnet werden – schließlich hat man den Kindergarten gerade hinter sich gelassen und gehört jetzt zu den Großen. Die Worte der Lehrerin erzielen den gewünschten Effekt, denn sofort und scheinbar empört taucht Benjamin unter dem Tisch auf und erklärt mit einer übertrieben kindlichen Stimme, dass er kein Kindergartenkind sei. Indem er seine Stimme verstellt, benimmt er sich jedoch noch mehr wie ein Kindergartenkind. Dies muss ihm bewusst sein. Nun ist die Frage, wodurch sich dieses Verhalten begründen lässt. Es ist möglich, dass Benjamin jetzt, da er die Aufmerksamkeit seiner MitschülerInnen hat, diese weiter auf sich ziehen möchte. Indem er mit der Stimme eines Kleinkindes spricht und gleichzeitig sagt, dass er kein Kindergartenkind sei, scheint er für die anderen Kinder den Klassenclown geben zu wollen. Denn diesen ist durchaus bewusst, dass Benjamin sich wie ein Kindergartenkind benimmt. Allerdings steigert seine Aussage nur noch einen „Ungehorsam“ gegenüber der Lehrerin, da er nicht komplett so reagiert, wie es vielleicht ihr Plan war. Benjamins Plan hingegen scheint Erfolg zu haben, denn seine MitschülerInnen lachen über ihn.

Frau Hinze entgegnet ihm: „Du bist eins, solange du mit dieser Stimme sprichst und unter dem Tisch rumkrabbelst.“ Sie scheint Benjamin zuvor nicht aus lauter Verärgerung als Kindergartenkind bezeichnet zu haben, sondern mit ihren Worten einen „Plan“ zu verfolgen. Gleichzeitig erklärt sie dem Rest der Klasse Benjamins Verhalten. Sie erläutert den Kindern, dass Benjamin so weiter machen wird, je mehr Aufmerksamkeit sie ihm schenken. Weil er genau das ja möchte. Damit bespricht sie mit den SchülerInnen komplett offen, was Benjamins Ziele mit seinem Verhalten sind. Natürlich ist ihr klar, dass auch Benjamin sie hören kann. Das merkt jetzt auch eines der Kinder an und wiederum vollkommen ehrlich erklärt Frau Hinze, dass auch genau das ihr Plan war.

Für einen Moment herrscht Stille in der Klasse und auf einmal taucht Benjamin unter dem Tisch auf und setzt sich auf seinen Stuhl. Irgendetwas in den Worten seiner Lehrerin scheint ihm zum Umdenken gebracht zu haben. Vielleicht war es die Tatsache, dass Frau Hinze ihm jeglichen Spaß genommen hat, indem sie seinen MitschüleInnen ganz klar seine Absichten präsentiert hat. Es ist jedoch auch möglich, dass Benjamin die Gedanken um die Bezeichnung „Kindergartenkind“ nicht losgelassen haben. Auch wenn er sich im ersten Moment noch mehr wie ein Kindergartenkind verhalten hat, möchte er jedoch nicht, dass er auf Dauer so von seinen KlassenkameradInnen bezeichnet wird. Für den Moment war sein „Schauspiel“ sinnvoll – mit großer Wahrscheinlichkeit ist es aber nicht seine Absicht, so in den Köpfen der anderen Kinder in Erinnerung zu bleiben.

Er setzt sich auf seinen Platz. Damit gibt er sich der Lehrerin auch ein Stück weit geschlagen. Gleichzeitig weiß er, dass nun der Unterricht weitergehen kann. Noch einmal zeigt Frau Hinze eine für Benjamin wahrscheinlich unerwartete Reaktion: Sie bedankt sich bei ihm und sagt, dass es nun weitergehen kann. Ihr „Danke“ hat keinen ironischen Unterton. Sie scheint es ernst zu meinen und gibt Benjamin dadurch gleichzeitig das Gefühl, dass sie ihn trotz seiner Störung immer noch ernst nimmt. Auch diese Reaktion der Lehrerin findet sich als Empfehlung bei DREIKURS, GRUNWALD und PEPPER wieder. Es wird empfohlen, sich beim Kind zu bedanken, wenn es die Unterrichtsstörung einstellt. Zusätzlich verdeutlich die Lehrerin Benjamin noch einmal, was vorher das Problem war, indem sie sagt: „….[n]un kann es weiter gehen.“ Sie zeigt ihm auf, dass das Problem an  seinem Verhalten war, dass alle anderen deshalb nicht weiter arbeiten konnten. Vollkommen gelassen fährt sie anaschließend mit dem Unterricht fort.

Auch in dieser Sequenz lässt sich Frau Hinze nicht aus der Ruhe bringen. Sie schenkt dem Kind nicht ihre volle Aufmerksamkeit, macht jedoch klar, dass es wegen dieser Störung gerade nicht im Unterricht weiter gehen kann. Dieses Verhalten der Lehrerin lässt sich teilweise in der Literatur wiederfinden. So heißt es, dass die Lehrkraft die restlichen SchülerInnen ruhig einladen kann, dem „Clown spielen“ des störenden Kindes zuzusehen. Frau Hinze erklärt dem Rest der Klasse, dass es wegen Benjamin gerade nicht weitergehen kann. Dies führt auch ohne explizite Aufforderung dazu, dass alle Kinder Benjamin ihre Aufmerksamkeit schenken. Sie lässt es jedoch nicht dabei bewenden. Vielmehr bespricht sie mit dem Rest der Klasse, was Benjamins Ziel ist, wenn er den Unterricht auf diese Art und Weise stört. Dies ist wahrscheinlich der Knackpunkt an dieser Situation  und wird von DREIKURS, GRUNWALD und PEPPER unbedingt empfohlen, wenn ein Kind den Clown in der Klasse spielt.

Viele in der Literatur angegeben Handlungsmöglichkeiten hat die Lehrerin in dieser Situation erfolgreich angewandt. Dabei waren Ruhe und Geduld der Lehrerin ausschlaggebend für den erfolgreichen Umgang mit den Unterrichtsstörungen.